Die Öffnung der Öffentlichkeit

aus Neue Zürcher Zeitung, 23. 10. 2010

Über die Grenzen digitaler Demokratie.

Von Hans Geser

Die Schwelle, sich – im weiteren Sinne – politisch zu artikulieren und zu engagieren, ist durch das Internet niedriger geworden. Doch ist auch in der digitalen Öffentlichkeit nicht alles Gold, was glänzt; und die Netzkommunikation weist zum Teil altbekannte Machtstrukturen auf.

Lange vor den jüngeren Konzentrationstendenzen hat der Philosoph Jürgen Habermas bereits 1962 auf die demokratiefeindlichen Wirkungen einer von monologischen Massenmedien dominierten, «vermachteten Öffentlichkeit» hingewiesen, die der seit der Aufklärung geforderten «herrschaftsfreien Kommunikation» mündiger Bürger keinen Raum gibt, weil politische Macht und Kapitalbesitz über den Zugang zu den Sendekanälen entscheiden. Mit ihrer – technisch bedingten – rigiden Trennung zwischen kleinen Sende-Eliten und passivem Publikum haben die Massenmedien bis heute Elemente paternalistischer Herrschaft konserviert, die in der gegenwärtigen Gesellschaft aber zunehmend fremdartig wirken. Denn sie kontrastieren zunehmend mit fast allen übrigen Institutionen, in denen sich seit den späten 1960er Jahren eine Verschiebung zu verstärkt partizipativen und dialogischen Kommunikationsformen vollzogen hat. So ist in den Schulen der traditionelle Frontalunterricht dem offeneren Gruppen- und Teamunterricht gewichen, in Unternehmungen werden Mitarbeiter im Rahmen der «lean production» stärker in die betriebliche Verantwortung integriert; und in der Parteienlandschaft ist der die Tradition des Grossvaters fortführende Stammwähler dem Wechselwähler gewichen, der in jeder Sachfrage neu überzeugt werden will.

Vorzüge

Damit ist das Bedürfnis nach ganz neuartigen Medien gewachsen, die neben traditionellen «one to many»-Emissionen auch vertikale Aufwärtskommunikation («many to one») sowie den horizontalen Austausch («many to many») technisch unterstützen. So richten sich heute berechtigte Hoffnungen auf das Internet, dessen Hauptfunktion ja darin besteht, seinen Nutzern unabhängig von Ort, Zeit und sozialen Kontrollen äusserst niederschwellige Möglichkeiten zur Kommunikation in der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen und alle Kommunikationsformen auf einer Einheitsplattform zu integrieren.

Diese Gewinne werden vor allem in jenen peripheren Regionen deutlich, wo es an konventionellen Offline-Kanälen mangelt: zum Beispiel wenn es den Zapatisten gelingt, sich aus dem tiefsten südmexikanischen Urwald zentral in die Weltöffentlichkeit einzuklinken; wenn die Arab Association of Gays and Lesbians diesen – einzigen – Weg nutzt, um ihre Minderheitsrechte gegen staatliche Repression zu artikulieren; oder wenn emigrierte Sudanesen – ähnlich wie weiland Heine und Börne in Paris – im Netz eine «Offshore-Öffentlichkeit» zum Leben erwecken, in der frei über die künftigen Entwicklungen ihres autoritär regierten Heimatstaates diskutiert werden kann.

Unstrittig ist auch, dass asynchrone Netzkommunikation im Vergleich zu mündlichen Diskursen ein höheres Rationalitätsniveau ermöglicht: indem sich die Aufmerksamkeit stärker auf die Sache als auf Personen richtet, Repliken und Dupliken überlegter erfolgen und mit Hintergrundinformation ausgestattet werden, alle Teilnehmer sich ohne Knappheiten der Redezeit zu Wort melden können – und indem alles früher Gesagte genauso wie das, was soeben geäussert wurde, verfügbar bleibt. Vieles spricht auch dafür, dass Online-Kommunikation die Konfrontation mit gegensätzlichen Meinungen und die Teilnahme an echt kontroversen Diskussionen begünstigt, weil man ohne Hindernis (und als «lurker» sogar unbemerkt) an Gruppen teilnehmen kann, deren Versammlungen man nie aufsuchen würde. Besonders evident ist auch, dass das Internet erfolgreiche politische Mobilisierung mit minimalem Personal- und Organisationsaufwand ermöglichen kann, wie im Falle der Anti-Landminen-Kampagne, für deren Initiierung die Hausfrau Jody Williams 1997 den Friedensnobelpreis erhielt.

Zu Recht wird auch betont, dass das Internet das Potenzial besitzt, die Wahrnehmung demokratischer Bürgerrechte zu erleichtern: Bürger können sich leichter direkt (d. h. ohne Hilfestellung der Parteien) über Wahlkandidaten informieren, und der Durchführung beliebig häufiger Abstimmungen stehen keine technisch-organisatorischen Hindernisse mehr entgegen. In Kombination mit direktdemokratischen Volksrechten können vor allem durch Einführung der elektronischen Unterschrift dramatische Wirkungen hervorgerufen werden – etwa indem es möglich wird, im Sog öffentlicher Stimmungen innerhalb von Stunden Hunderttausende von Unterschriften zu sammeln und in schneller Kadenz Online-Abstimmungen stattfinden zu lassen, in denen neben Ja-Nein-Entscheidungen ohne technischen Mehraufwand auch Präferenzen mit Blick auf Alternativen oder Skalenwerte (wie viel Prozent Steuersenkung?) abgefragt werden können. Weit über die Politik hinaus entfalten schliesslich die nutzergesteuerten «bottom up»-Verfahren des Web 2.0 demokratisierende Wirkungen, indem sie den Einfluss bisheriger Eliten unterminieren; beispielsweise wenn Patienten Ärzte und Kliniken, Studierende ihre Professoren und Leser ihre Buchautoren bewerten – und damit bisher von Kontrolle unbehelligte Professionen und Institutionen unter öffentliche Dauerbeobachtung stellen oder das Urteil bisheriger professioneller Evaluatoren konkurrenzieren.

Nachteile

Trotz alledem hat das Internet bisher die grösseren Einfluss- und Machtverhältnisse kaum verändert; und Eigenheiten der Online-Öffentlichkeit wie auch ihres gesellschaftlichen Umfelds lassen auch in Zukunft kaum große Änderungen erwarten.

Zunächst wirkt das Internet generell depolitisierend in dem Sinne, dass mehr Ziele als früher durch rein individuelles Handeln erreichbar sind. Was soll ich mich für tiefere Medikamentenpreise oder liberalere Copyright-Gesetze einsetzen, wenn ich die entsprechenden Produkte billig im Ausland bestellen bzw. gratis herunterladen kann? Selbst millionenfach «unterzeichnete» Online-Petitionen entfalten keine Wirkung, weil man davon ausgehen kann, dass sich die teilnehmenden Stubensurfer von spontan-volatilen Momentanreaktionen leiten lassen und kein Engagement signalisieren, das mit der Teilnahme an einer Demonstration vergleichbar wäre. Die Bedeutung neuer politischer Gruppierungen bleibt dubios, weil sich selbst hinter der eindrücklichsten Website bloss eine Einzelperson verbergen kann. Die offenen Online-Kanäle (ohne Beschränkungen der Redezeit) sind zwar gut geeignet, um eine breite Vielfalt der Meinungen und Vorschläge ans Licht zu bringen – aber nur in anschliessenden Versammlungen gelingt es, das für akzeptierte politische Entscheidungen nötige Maß an Überzeugungsarbeit und Verbindlichkeit zu erzeugen. Generell wird der für politisches Handeln nötige kollektive Konsens schwerer erreichbar, weil vielfältigere Minderheitsmeinungen berücksichtigt werden müssen; und die Stellung von Partei- und Verbandseliten wird geschwächt, weil sie über keinen privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit (via «Zentralorgan») mehr verfügen.

Dass die Anfangsphasen politischer Mobilisierung ohne Aufbau formaler Organisation vonstattengehen können, erweist sich in den späteren Phasen als großer Nachteil, wenn es darum geht, Handlungsstrategien auf Dauer zu stellen und im institutionellen Gefüge der Gesellschaft eine verlässliche Rolle (zum Beispiel durch Einsitznahme in wichtige Gremien) zu übernehmen. So beschränkt sich die Aktivität von Facebook-Gruppen meist auf folgenlose symbolische «flash campaigns»; im schlimmsten Falle sieht sich der Staat unberechenbar-strukturlosen Mobs gegenüber, auf die nur noch repressiv reagiert werden kann.

Den Austausch intensivieren

«Demokratie» jeglicher Form gelingt bekanntlich umso besser, je mehr es gelingt, große Freiheiten der Meinungsäusserung mit potenten Mechanismen der Konsensbildung und Entscheidungsfindung zu verknüpfen. Der Weg dahin scheint dadurch versperrt, dass sich die traditionellen Eliten dem Online-Diskurs bis anhin fast völlig verweigern, weil sie – was bei Journalisten besonders augenfällig wird – in einem Medium, das alle User zu gleichrangigen Lieferanten von Text-Voten degradiert, keine Möglichkeiten zur Wahrung einer herausgehobenen Podestposition mehr sehen. (Diese «Wagenburgmentalität» geht in manchen renommierten Zeitungen so weit, dass man die Redaktoren nach wie vor per Telefon oder Papierbrief kontaktieren muss, weil sie ihre persönliche E-Mail-Adresse nicht publizieren.)

Anstatt mit naserümpfender Verachtung des «digitalen Stammtisches» in makelloser politischer Korrektheit zu verharren, sollten sich sowohl Medienschaffende wie Politiker wohl besser bemühen, wenigstens während eines Teils ihrer Arbeitszeit mit der stimmenreichen Netz-Öffentlichkeit in ein aktives Austauschverhältnis zu treten, um (als Initiatoren, Katalysatoren oder Moderatoren von Online-Diskursen) eventuell eine neue professionelle Führungsrolle zu erringen.

Prof. Dr. Hans Geser ist als Ordinarius am Soziologischen Institut der Universität Zürich tätig; vgl. http://www.geser.net/home.html.

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