Das falsche Gezwitscher im Internet

aus FAZ.NET, 17. 11. 2010

Der Kurznachrichtendienst Twitter wird zum Psycholabor. Mit den Inhalten der Minitexte will man Börsenkurse vorhersagen, und politische Rattenfänger sind schon beim Versuch ertappt worden, Wahlen zu manipulieren.

Von Philipp Hummel

17. November 2010

Das Internet wird mächtiger, es spielt zunehmend nicht nur eine Rolle bei der Suche nach Informationen, Schnäppchen und illegaler Musik, sondern auch bei der öffentlichen Meinungsbildung. Und die Währung, in der online Macht bezahlt wird, ist Popularität. Wer im Web bekannt ist, kann versuchen, Einfluss zu nehmen. Wer Menschen erreichen will, sei es, um ihnen etwas zu verkaufen oder um sie als Unterstützer zu gewinnen, muss so bekannt sein wie möglich. Doch wie oder womit steuert man die Popularität im Internet? Die Entwicklung des Bekanntheitsgrades von Websites verläuft nicht einheitlich. Sie unterliegt einer Dynamik, nach der der Entstehung einer neuen Seite zuerst ein Bekanntheitsschub mit vielen Klicks verschiedener Nutzer folgt.

So geht es fast allen neuen Internetseiten. Dann allerdings bilden sich zwei verschiedene Muster heraus: Während einige Seiten nach dem anfänglichen Popularitätssprung exponentiell wachsen – sie werden umso beliebter, je mehr Menschen sie bereits nutzen – entwickelt sich die Beliebtheit anderer, bedingt durch äußere Einflüsse, in unregelmäßigen Schüben weiterhin sprunghaft. Betrachtet man die Beliebtheit vieler verschiedener Websites, so gibt es keine typische Anzahl von Besuchern pro Seite. Von Seiten mit sehr wenigen Besuchern bis hin zu Seiten, auf die fast jeder Internetnutzer surft, gibt es alle Abstufungen, und zwar etwa in gleicher Häufigkeit. Weil es keine bestimmte Größenordnung von Besuchern pro Seite gibt, sprechen Wissenschaftler von einer „skalenfreien Verteilung“ der Beliebtheit von Websites, wie sie auch bei der Verteilung der Erdbebenstärke oder der Heftigkeit von Börsencrashs auftritt.

Popularität im Netz

Forscher um Jacob Ratkiewicz und Filippo Menczer von der amerikanischen Indiana University in Bloomington haben ein Modell formuliert, mit dem sie die Dynamik der Online-Popularität nachvollziehen können. Dieses Modell kombiniert eine exponentielle Zunahme der Beliebtheit einer Website mit einem Zufallsverfahren, das den Popularitätsschüben Rechnung trägt. Als Ausgangspunkt verwendeten sie Besuchsdaten der Online-Enzyklopädie Wikipedia und der Domain „.cl“ des Landes Chile. Sie konnten im Sekundentakt verfolgen, wie sich von Januar 2001 bis März 2007 die Seiten der englischsprachigen Wikipedia durch Verlinkungen von und auf andere Seiten der Enzyklopädie veränderten und so wuchsen.

Von Februar 2008 bis zur Erstellung ihres Artikels im Mai 2010 (doi: 10.1103/PhysRevLett.105.158701 oder arxiv.org) untersuchten sie, wie viele Besucher jede Wikipedia-Seite stündlich hatte. Die jährlichen Besucher aller Seiten mit der chilenischen Adresse „.cl“ gingen ebenfalls in die Datenanalyse ein. Jeweils standen den Informatikern über drei Millionen Einzeldaten zur Verfügung, die alle mit dem Zeitpunkt ihrer Erhebung versehen waren. Damit konnten die Wissenschaftler erstmals die zeitliche Dynamik der Bekanntheit im Web erforschen.

Ratkiewicz und seine Kollegen haben sich zum Ziel gesetzt, die Grundprinzipien der Entstehung von Popularität im Netz offenzulegen. Vor dem Missbrauch seiner Forschung zu Zwecken der Manipulation der Öffentlichkeit hat der junge Informatiker keine Angst, obwohl „aktuelle Erfahrungen aus einem anderen unserer Projekte vermuten lassen, dass es Menschen gibt, die versuchen soziale Netzwerke gezielt zu manipulieren, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Websites zu lenken. Es ist bereits gezeigt worden, dass solche sogenannten Twitter-Bomben eine Website an die Spitze der Google-Suchergebnisse katapultieren können.“

Wie man Nachrichten multipiliziert

Eine Twitter-Bombe ist ein systematischer, oft mit Hilfe von speziellen Roboterprogrammen durchgeführter Angriff, um das soziale Netzwerk Twitter, auf dem sich schnell kurze Nachrichten verbreiten lassen, zu manipulieren. Automatische Benutzerkonten werden von Aktivisten so manipuliert, dass sie immer und immer wieder kurze Nachrichten („Tweets“) produzieren oder einfach weiterverbreiten („Retweet“). Besonders brisant ist diese Form von Hacking, weil Google seit Dezember 2009 die Möglichkeit bietet, in Echtzeit Ergebnisse zu suchen. Damit findet man passende Treffer bereits Sekunden nach ihrer Erzeugung im Netz. Diese Suche im „real-time web“ zeigt im Wesentlichen Twitter-Nachrichten, die den Suchbegriff enthalten, und zwar einfach deswegen, weil dort ständig neuer Inhalt entsteht. Damit werden Twitter-Bomben auch schnell zu Google-Bomben.

Größere Wellen schlugen Twitter-Bomben, die anlässlich der Wahl des Nachfolgers von Edward Kennedy als Senator von Massachusetts im Januar 2010 geworfen wurden. Einige Tage vor der Wahl zwischen der Demokratin Martha Coakley und dem Republikaner Scott Brown wurden Twitter-Konten angelegt, die auf eine Website mit dem Titel „coakleysaidit“ (Coakley hat’s gesagt) verlinkten. Diese Website, die vermeintlich verräterische Zitate der demokratischen Kandidatin kritisiert, wurde ebenfalls am selben Tag gegründet. Der Urheber der Website machte von einem kostenpflichtigen Angebot Gebrauch, das es ermöglicht, anonym zu bleiben. Zwei Monate später wurde der American Future Fund als Betreiber der Website registriert.

Dieser Gruppe von konservativen Polit-Aktivisten werden Verwicklungen in frühere Angriffe auf verschiedene andere Demokraten und auch in die sogenannte Swift-Boat-Affäre, die John Kerry im Präsidentschaftswahlkampf 2004 schwer belastete, nachgesagt. Die neun Konten, die auf die besagte Website führten, wurden innerhalb von 13 Minuten erstellt und verschickten in etwas mehr als zwei Stunden 929 Nachrichten, deren Absendersignatur immer dem gleichen Muster folgte. Insgesamt verschickten die Konten zehn verschiedene Nachrichten und zwei Links auf die Schmähseite. Geht man davon aus, dass nur eine Person hinter dem Angriff steckte, hätte sie im Durchschnitt eine Nachricht pro Sekunde verschicken müssen.

„Astroturfing“

Die Wissenschaftler Panagiotis Takis Metaxas und Eni Mustafaraj vom Wellesley College vermuten deshalb, dass die Nachrichten von einem Programm verschickt wurden, das zufällige Adressaten und jeweils eines der Benutzerkonten als Absender ausgewählt hatte. In einem Beitrag für die Web Science Conference 2010 (http://journal.webscience.org/317/) wiesen sie nach, wie Twitter während des Wahlkampfes manipuliert wurde. Dazu analysierten sie Twitter-Meldungen, die einen der Namen der Kandidaten enthielten. Die Forscher deuten auf die Gefahr hin, dass durch die von Google eingeführte Echtzeitsuche die öffentliche Stimmung gezielt beeinflusst werden kann. Bei der Senatswahl in Massachusetts lag freilich der republikanische Kandidat schon vor dem Bombardement mittels Twitter in den Umfragen etwa so weit vorne, wie es später die Wahl bestätigte, und die Gruppe von etwa 60000 Menschen, die mit den Tweets erreicht wurden, stellt möglicherweise – selbst wenn man deren Multiplikator-Wirkung mit einbezieht – eine marginale Größe dar. Die Wahlbeteiligung lag immerhin bei mehr als 2,2 Millionen Wählern.

Jedoch weisen die Forscher darauf hin, dass kleine Gruppen einfach, kostenlos und gezielt Suchergebnisse manipulieren und so den Eindruck einer Massenbewegung oder eines generellen Trends erwecken können. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „astroturfing“ bekannt und spielt darauf an, dass Gruppen versuchen, sich selbst als Basisbewegung („grass roots movement“ – wörtlich Graswurzel-Bewegung) darzustellen. Astroturf ist der Markenname eines Kunstrasenbelages. Das Motiv, eine „Bewegung von unten“ vorzutäuschen, kann zweierlei Gründe haben: die Bewegung größer erscheinen zu lassen, als sie ist, oder den wahren Urheber der scheinbaren Basisbewegung zu tarnen, um Unabhängigkeit vorzugaukeln. Auch in der Werbebranche ist Astroturfing schon erfolgreich eingesetzt worden.

Angeregt durch die Arbeit von Metaxas und Mustafaraj, entstand an der Indiana University ein Projekt, das solche Manipulationsversuche offenlegen soll. Das „Truthy Project“ (truthy.indiana.edu) zählt auf Twitter-Nutzer, die dabei helfen, auffällige Nachrichten und Benutzer zu finden. Mit Hilfe einer großen Unterstützergruppe kann die Suche nach Betrügern im Netz viel besser gelingen als lediglich unter der Beteiligung einiger Informatik- und Netzwerk-Experten. Dieser Ansatz ist in Anlehnung an das Auslagern von Arbeit aus einem Unternehmen („Outsourcing“) als „Crowdsourcing“ bekannt. Fil Menczer, einer der leitenden Forscher, die Truthy betreiben, erklärt seine Motivation: „Eine der Sorgen bezüglich Social Media ist, dass Menschen manipuliert werden, ohne es zu merken, denn einem Begriff kann schlagartige globale Bekanntheit beschieden sein, wenn er bei einer Suchmaschinen-Anfrage gut abschneidet. Damit kann der Betrug unentdeckt bleiben.“

Twitter-Bomben

Den Begriff „truthy“ prägte der amerikanische Comedian Stephen Colbert bereits 2005. Er soll beschreiben, wie vor allem in politischen Kampagnen immer mehr an ein Bauchgefühl appelliert und von logischen oder empirischen Argumenten abgesehen wird – es reicht, dass sich etwas „wahr anfühlt“. Auf ihrer Website versuchen die Wissenschaftler mittels Netzwerkanalysen zu zeigen, wie Beeinflussung im Internet funktioniert und wo sie stattfindet. Sie versuchen die Eintrittsstellen bestimmter Begriffe auszumachen, die mit Manipulation verbunden sind.

Dazu stellen sie Netze aus Knotenpunkten auf, die untereinander verbunden sind. Die Knoten repräsentieren die Nutzer, die Kanten – also Verbindungslinien – zeigen, wer über welchen Nutzer informiert wird und wen ein Nutzer selbst mit Nachrichten versorgt. So lässt sich schnell einsehen, welche Nutzer besonders aktiv sind und wie Nachrichten sich im sozialen Netz ausbreiten. Auch bei den amerikanischen Wahlen Anfang November schöpften die Forscher von „Truthy“ den Verdacht, dass Manipulationsversuche unternommen worden waren. Allerdings fielen ihnen keine Twitter-Bomben auf, die eine größere Wirkung über das soziale Netzwerk hinaus erzielt hätten, so Ratkiewicz.

Die Wissenschaftler versuchen auch, die kollektive Stimmungslage der Twitter-Gemeinde zu ermitteln. Mit Hilfe von Instrumenten aus der Psychometrie, der Theorie und Methode des psychologischen Messens, haben sie einen Algorithmus erstellt, der Tweets auf emotionale Schlüsselwörter hin untersucht, die in sechs Kategorien eingeordnet werden: Fröhlichkeit, Freundlichkeit, Wachsamkeit, Gewissheit, Lebendigkeit und Gelassenheit. Die Analyse der Gefühlswelt von Twitter wollen die Forscher nutzen, um Trends in Gesellschaft und Wirtschaft vorherzusagen. Johan Bollen, der ebenfalls am Truthy-Projekt mitarbeitet, ist experimenteller Psychologe und konnte einen Zusammenhang der Schlusskurse des Dow Jones Industrial Average (DJIA) mit den Gefühlskategorien nachweisen (http://arxiv.org/abs/1010.3003).

Er analysierte dazu 9,8 Millionen Tweets von 2,7 Millionen Nutzern, die in einem Zeitraum von zehn Monaten im Jahr 2008 gesendet wurden. Dabei stieß er auf eine Verknüpfung des Gefühls „Gelassenheit“ mit den Schlusskursen. Mit einer Genauigkeit von 87,6 Prozent lässt sich, laut Bollen, drei bis sechs Tage im Vorfeld bestimmen, ob der DJIA höher oder niedriger schließt. Die Wahrscheinlichkeit an zwanzig aufeinander folgenden Tagen diese Quote durch pures Raten zu erreichen liegt bei lediglich 3,4 Prozent. Dass sich Börsenkurse nicht rein zufällig verhalten, wie es die gängige Theorie effizienter Märkte behauptet, legen die Kursverläufe nahe. Bollen hofft, dass sich durch Einbeziehung der Twitter-Gefühle eine höhere Vorhersagekraft erzielen lassen wird.

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